Filmforum Archiv
Ein 14-jähriger Junge stirbt nachts in der bunten Warenwelt eines Supermarkts. Dieses verstörende Bild sollte mich noch lange beschäftigen, als ich 2009 eine Tageszeitung aufschlug und von einer Geschichte erfuhr, die in Österreich wochenlang kontrovers diskutiert wurde. Davon inspiriert erzählt “Einer von uns” einen komplexen Kosmos an Figuren, die die sterilen Gänge und den riesigen betongrauen Parkplatz des Supermarkts beleben. Dabei begegnen alle Charaktere dem 14-jährigen Teenager Julian, der neugierig und naiv das Abenteuer in dieser streng geordneteten Konsumwelt sucht.
Die riesigen Regalwelten, gefüllt mit knalligen aber leeren Versprechungen, bilden im Film die zentrale Erzählperspektive auf eine Geschichte über Identität, Freundschaft, Liebe, Anerkennung und die Langeweile der Vorstadt. Die erwachsenen Figuren fungieren dabei meist als systemtreue Erfüllungsgehilfen, die eine spätkapitalistische Lüge am Leben erhalten, obwohl sie selbst darin kaum Erfüllung finden. Gerade diese Tatsache macht die Geschichte eines Jungen, der diesem System sinnlos zum Opfer fällt, in meinen Augen so unendlich traurig. Menschen sind hier in erster Linie Konsumenten, und lebendig sind scheinbar nur die Jugendlichen und ihre ziellose aber mitreißende Rebellion.“ (einervonuns.at)
San Sebastian Filmfestival 2015, New Directors Award
Der ehemalige Lehrer Ekki streitet sich wegen eines aus dem Sortiment genommenen Produkts mit Supermarktleiter Uwe, der übers Internet die Künstlerin Janine kennenlernt, die wiederum den Familienvater und Hobby-Imker Robert porträtiert. Uwes Frau Julia hält sich indes an die käufliche Liebe. (…) Callboy Vincent hat sich gemeinsam mit seiner Freundin ganz konkrete Grenzen für seine Tätigkeit gesteckt. Vincent wohnt übrigens im selben Stock wie Lehrer Ekki, der nebenbei einen "Anger Room" betreibt, in dem unter anderem auch Robert seinen Frust an zum Zerstören freigegebenen Möbeln auslässt. Die Verbindung zwischen Robert und Ekki bleibt am längsten im Dunkeln, erweist sich dann aber auch als die dramatischste …
(…) Einsamkeit und Sex und Mitleid(ist) eine universell zugängliche, extrem unterhaltsame, zu Diskussionen zwingende Satire, die vor allem auch durch ihren verwegenen Stilwillen einem repräsentativen Querschnitt durch unsere Gesellschaft erstaunlich nahe kommt …
Fazit: Selten war deutsches Arthauskino so nah am Puls der Gesellschaft. Eine saulustige Ensemble-Satire, die mit ihrem Hang zum Extremen, bissigen Ideen, verwegenen Stilmitteln und tollen (oft noch wenig bekannten) Darstellern überzeugt. (filmstarts.de)
Vizeleutnant Charles Eismayer, der härteste Ausbilder beim österreichischen Bundesheer, hütet sorgfältig sein Geheimnis: Er ist schwul. Als er sich jedoch in einen Rekruten verliebt, gerät sein heteronormativ konstruiertes Leben ins Wanken. Das traditionelle Rollenbild des Soldaten ist für Eismayer mit einer schwulen Beziehung nicht vereinbar. Wird er seinem Image des knochenharten Machos treu bleiben oder dem Ruf seines Herzens folgen? Kann letztlich gar beides miteinander vereinbar sein? Nach wahren Begebenheiten.
„Ein derartiger Kino-Stoff wurde in Österreich noch nie erzählt, und es ist tatsächlich höchste Zeit dafür. Nicht nur, weil sich in Österreich um die Person Charles Eismayers bei Grundwehrdienern viele Legenden ranken, sondern auch, weil diese Geschichte unsere Vorurteile und Vorstellungen von vermeintlicher Männlichkeit und Stärke bricht und neu zusammensetzt.“
(Arash T. Riahi, Sabine Gruber, Produzent*innen)
Settimana Internazionale della critica, Venedig 2022, Bester Film
In Kooperation mit GoWest – Verein für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans*, Inter* und Queer und der Stadt Bregenz (Fachbereich LGBTIQ+)
Hinweis: Der Film beinhaltet gewaltsame Szenen
Der Schamane und die Schlange
CO 2015 | 125 min | OmU | R: Ciro Guerra
Zwei Forscher dringen ins Innerste des Amazonas vor: Der deutsche Ethnologe Theodor Koch-Grünberg im Jahr 1909, der nordamerikanische Botaniker und Abenteurer Richard Evan Schultes im Jahr 1940. Begleitet werden beide vom gleichen Schamanen, der selber der einzige Überlebende eines ausgelöschten Stammes ist und sie je zum Ziel ihrer Wünsche fuhren soll: Sie suchen eine im Urwald verborgene halluzinogene Wunderpflanze.
Zusehends wandeln sich in El abrazo de la serpientedie beiden realen historischen Handlungen zum zeitüberschreitenden spirituellen Abenteuer, zum bildgewaltigen psychedelischen Trip, wie man ihn seit Apocalypse Nowvon Francis Ford Coppola nicht mehr in dieser Intensität gesehen hat. Joseph Conrad lässt auch hier mit seinem Roman Heart of Darknessgrüßen, der Mekong dort, der Kongo da, und nun dieser Amazonas.
Packend, wie uns Guerra über Mensch, Natur und die destruktive Macht des Kolonialismus nachdenken lässt, wie er die Rollen umkehrt, unvergesslich seine Tauchfahrt ins Innere des immensen Regenwalds. Erst ganz am Ende taucht er wieder auf und lässt uns aufatmen. (trigon)
Cannes 2015, Bester Film – Art Cinema Award
Nominiert für den Oscar als bester fremdsprachiger Film
„Er ist nicht Deutscher, er ist Argentinier“, meint die junge Sulamit Löwenstein über ihren Freund Friedrich. Beide wachsen im Argentinien der 1950er auf, sie als Tochter jüdischer Eltern, er als Sohn eines Nazis. Als sie sich ausgerechnet in Deutschland als Austauschstudenten wiedertreffen, kämpft Friedrich politisch gegen den Makel seiner Herkunft. Den beiden stellt sich die Frage „was wird aus uns?“, während in Argentinien die Militärdiktatur wütet.
In ihrem neuen Kinofilm erzählt Jeanine Meerapfel die Geschichte einer großen Liebe in den Zeiten des politischen Umbruchs und historischen Wandels.
Hieronymus Bosch – Garten der Lüste
ES 2016 | 86 min | OmU | R: José Luis López-Linares
Surrealistischer Fiebertraum, Allegorie der Schöpfungsgeschichte und ein Geheimnis hinter dem Geheimnis: Seit genau 500 Jahren fasziniert Hieronymus Boschs berühmtestes Gemälde Der Garten der Lüsteseine Betrachter immer wieder aufs Neue. Philosophen, Wissenschaftler, Historiker und Künstler wie die Schriftsteller Salman Rushdie und Cees Noteboom, der Philosoph Michel Onfray oder der Komponist Ludovico Einaudi laden uns ein, die unendlich vielfältigen Aspekte und Deutungsmöglichkeiten eines der bildgewaltigsten Werke der Kunstgeschichte zu entdecken.
Hieronymus Bosch – Garten der Lüsteist ein ebenso farbenprächtiger wie spannender Trip in die rätselhafte Welt eines rätselhaften Künstlers, unterlegt mit einem soghaften Soundtrack, der von Bach bis Elvis Costello reicht und die Zeitlosigkeit von Boschs Meisterwerk auch musikalisch eindrucksvoll unterstreicht.
Ein ehrenwerter Bürger
AR, ES 2016 | 118 min | OmU | R: Gastón Duprat,...
Zum ersten Mal seit 40 Jahren kehrt der Literatur-Nobelpreisträger Daniel Mantovani in seinen Heimatort in der argentinischen Provinz zurück. Doch was als nostalgische Reise an die Quelle seiner literarischen Inspiration beginnt, wird für den berühmten Autor bald zum realen Höllentrip.
El ciudadano illustreist eine furiose Komödie über die Gespenster der Vergangenheit, glänzt mit intelligenten und wunderbar bissigen Dialogen und war in den lateinamerikanischen Kinos ein fulminanter Publikumserfolg.
„Ein großes Vergnügen“ (The Hollywood Reporter)
„Erinnert an die großen italienischen Komödien“ (Le Figaro)
Venedig Film Festival 2016, Bester Schauspieler für Oscar Martìnez
Goya Awards 2017, Bester lateinamerikanischer Film
Haifa 2016, Bester internationaler Film
Havana Film Festival 2016, Bestes Drehbuch
Argentinien in den frühen 1980er-Jahren. Die Puccios leben in einem gutbürgerlichen Stadtteil in Buenos Aires, nach außen wirken sie wie eine ganz normale Großfamilie. Doch der Schein trügt. Im Verborgenen führt Patriarch Arquímedes Puccio mit harter Hand die Geschäfte der Familie, dunkle Machenschaften mit grausamen Methoden: Kidnapping, Lösegelderpressung, Mord. Dafür braucht Arquímedes vor allem die bedingungslose Unterstützung seines ältesten Sohnes Alejandro, der für ihn geeignete Opfer ausfindig macht. Als Star-Spieler der Rugby-Nationalmannschaft ist dieser durch seine Berühmtheit über jeden Verdacht erhaben und somit das ideale Werkzeug. Als Alejandro jedoch das makabre Familienbusiness in Frage stellt, droht die Fassade zu bröckeln.
El Clanberuht auf einem der berühmtesten Kriminalfälle Argentiniens und sprengte in seinem Herkunftsland sämtliche Kinorekorde. In atmosphärisch dichten Bildern erzählt Regisseur Pablo Trapero die Story des Puccio-Clans, der aktiv war, als das Land an der Schwelle von der Diktatur zur Demokratie stand. Der vom spanischen Kultregisseur Pedro Almodóvar mitproduzierte Gänsehaut-Thriller wurde am Filmfestival Venedig mit einem Silbernen Löwen für die beste Regie ausgezeichnet.
Silberner Löwe (Beste Regie), Venedig 2015
Mit Zärtlichkeit, emotionaler Wahrhaftigkeit und tragikomischem Humor erzählt El Olivodie Geschichte einer jungen Frau, die auszieht, das Unmögliche zu versuchen: Eine Reise, die niemanden unberührt lässt, am wenigsten sie selbst.
Alma ist Anfang 20, rebellisch und impulsiv. Ihre ganze Liebe gilt ihrem Großvater, der nicht mehr spricht, seit die Familie vor Jahren gegen seinen Willen den uralten Olivenbaum verkauft hat, und der langsam im Nebel des Alters zu verschwinden droht. Alma beschließt zu handeln: Sie will den Olivenbaum nach Hause zurückholen, um dem Großvater seinen größten Wunsch zu erfüllen. Doch der Baum steht längst eingetopft im Atrium eines Düsseldorfer Energiekonzerns, und zwar als Symbol für Nachhaltigkeit.
Hals über Kopf stürzt sich Alma in eine Reise, die Don Quijote alle Ehre machen würde. Umso mehr, als die beiden Sancho Pansas, ihr schräger Onkel Alcachofa und ihr still verliebter Kollege Rafa, keine Ahnung davon haben, wie schwierig die Unternehmung ist, auf die sie sich da einlassen.
El Olivo ist nach Und dann der Regender neue Film von Goya-Preisträgerin Icíar Bollaín, emotional, politisch und mit dem unverwechselbaren Humor von Paul Laverty.
Ein nie aufgeklärter Mord an einer jungen Frau und eine nie erloschene Leidenschaft lassen den Gerichtsangestellten Esposito auch nach seiner Pensionierung nicht los. Er will den Fall literarisch verarbeiten. Die Nachforschungen führen ihn auf eine Reise in seine Vergangenheit und zu einer Wiederbegegnung mit der Liebe seines Lebens...
Regisseur Juan José Campanella verflicht geschickt einen packenden Thriller mit einer ebenso fesselnden Liebesgeschichte, die den Zuschauer von Anfang bis Ende in den Bann zieht. Der von der Kritik und der Presse hochgelobte argentinische Film wurde überall auf der Welt, wo er im Kino schon zu sehen war, ein Riesenerfolg und erhielt den Oscar 2010 als "Bester fremdsprachiger Film".
Als seine Töchter ihn ins Seniorenheim stecken wollen, steigt Abraham (Miguel Ángel Solá) kurzerhand ins Flugzeug und verschwindet. Er macht sich auf eine abenteuerliche Reise von Buenos Aires nach Polen. Dort will er den Jugendfreund suchen, der ihm während des Holocaust das Leben rettete, und ihm ein besonderes Geschenk bringen.
Der Film schafft eine anrührende Balance zwischen Melancholie und Heiterkeit und gewann auf den Festivals in Miami und Philadelphia jeweils den Publikumspreis.
„Ein liebenswerter Film über die vielfältigen Wege der Geschichtsverarbeitung.“ (epd-Film)
„Eine feinsinnige argentinische Tragikomödie voll tiefem Mitgefühl und Menschlichkeit.“ (Film-Netz)
Regisseur Markus Imhoof beschäftigt sich mit der Frage, wie Flüchtlinge und Migranten im Europa des 21. Jahrhunderts behandelt werden. Dabei geht Imhoof auch auf seine eigene Vergangenheit ein, denn während des Zweiten Weltkriegs nahm seine Familie ein italienisches Flüchtlingskind namens Giovanna bei sich auf und pflegte es gesund. Diese Geschichte, die kein gutes Ende nahm, ging ihm niemals aus dem Kopf. In der Gegenwart begibt er sich daher auf Giovannas Spuren nach Italien und beobachtet dort beispielsweise die Operation "Mare Nostrum" der italienischen Marine, bei der Flüchtlinge aus dem Mittelmeer geborgen werden. Bei den Rettungsaktionen, denen Imhoof an Bord beiwohnt, können über 100.000 Menschen aus den Fluten gefischt werden. Im Lauf der Dreharbeiten, bei denen der Regisseur die Perspektive des Kindes einnimmt, das er einmal war, findet er Antworten auf Fragen, die ihn seit seiner Kindheit beschäftigen.
„Die enorm vielschichtigen Aspekte und Facetten, die Markus Imhoof immer wieder mit der eigenen Biographie verknüpft, machen Eldoradozu einem außergewöhnlichen Werk über Flucht und ihre Ursachen, das den Blick für Zusammenhänge weitet. Universell und zutiefst human.“ (kino-zeit)
Amnesty International Award bei der Berlinale 2018
Wir zeigen den Film in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum Hohenems.